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… es mich erwischt hätte?

… es mich erwischt hätte?

Warum mußte ich auch den Hauptbahnhof nehmen, ich hätte doch in Gesundbrunnen in die U-Bahn umsteigen können! Vor der Frequentierung des Hauptbahnhofes wurde gewarnt – fern aller Hysterie natürlich. Schon als der Innenminister den Anschlag ankündigte – den »mutmaßlichen Anschlag«, was immer das sein soll –, sagte er zwar zahlreiche Wörter, aber eigentlich nur »Hauptbahnhof«. Die Journalisten hatten verstanden. Fortan setzte die Bild- und Tonberichterstattung vom Hauptbahnhof ein: die Waffen, die schußsicheren Westen, die »nicht sichtbaren Maßnahmen« usw. Der Polizeichef absolvierte die allgemeine Lagebeurteilung fürs Fernsehen auf dem Hauptbahnhof, von der Mittel­ebene. Den Hauptbahnhof konnte man sich an allen fünf Fingern ausrechnen: vor Merkels Bürotür!

Auch das Volk hatte verstanden. Am Donnerstag morgen war ich fast allein auf dem Hauptbahnhof, ich und die Sicherheitskräfte, die nicht sichtbare Maßnahmen durchführten. Heute morgen nun hätte ich besser in Gesundbrunnen umsteigen sollen. Es geschah zwanzig nach acht.

Ich habe nichts gespürt und nicht gelitten. Es traf mich in den Rücken. Ich war nicht allein, soviel habe ich noch mitgekriegt, bevor ich in Teile zerfiel. Mein letzter Gedanke galt nicht meiner Frau, sondern meinem Kater Josef – ich hatte, als ich losfuhr, vergessen, ihm sein Kellerfenster aufzumachen. Es ist wie es ist. Man muß auch verlieren können…

Aber nun habe ich eine Bitte: Ich möchte nicht am Staatsakt teilnehmen! Nicht mit den anderen im Berliner Dom in einer militärischen Linie liegen, mit einer Fahne viel zu warm zugedeckt, die ich nicht leiden kann. Ich hasse den Berliner Dom. Ich will das Deutschlandlied nicht hören, auch nicht in der Fassung für traurige Streicher. Ich verabscheue das Deutschlandlied, weil es der Gassenhauer einer Besatzungsmacht ist. Wenn ich das Deutschlandlied zwangshören muß, kann ich für nichts garantieren. Ich will nicht die Pfaffen sehen müssen. Jetzt, wo ich tot bin, werde ich doch ohne alle Rücksicht sagen dürfen, daß mir Religion zuwider ist, das kann man doch einem Attentatsopfer nicht verdenken. Ich möchte ums Verrecken nicht der Merkel begegnen, der Merkel im kleinen Schwarzen. Das wäre grausamer als der Tod. Ich werde daliegen und denken, wozu bin ich denn eigentlich gestorben, wenn jetzt auch noch die Merkel über mich kommt. Oder ist das schon die Hölle? Ich möchte sie nicht sagen hören, daß Deutschland aus dieser schweren Prüfung gestärkt hervorgehen wird, zumindest was den Exportüberschuß mit den USA betrifft. Ich will nicht diesen Guttenberg in der Nähe meiner sterblichen Überreste haben, diesen saftenden Emporkömmling, der die Gelegenheit nutzen wird, hechelnd allen alle Wunden zu lecken! Und nicht Wulff, der sagen wird, daß auch die Attentäter zu Deutschland gehören! Und nicht die Sozis, die alle wie Peter Struck in seinen schlechtesten Tagen gucken und mal wieder nichts außer Bahnhof verstehen. Die mußte ich schon im Leben ertragen. Jetzt will ich nicht mehr. Und Claudia Roth, die natürlich weint und sich schreiend über den erstbesten Sarg wirft, und das ist meiner. Ihr Deo hat versagt, aber es gibt Schlimmeres.

Das ist nicht mein Staat, und ich will nicht von ihm betrauert werden.

Aber kann ich mich ausschließen? Ist das nicht unsolidarisch gegenüber den anderen, für die das womöglich der Höhepunkt ihres Lebens ist, im Fernsehen zu sein, »Ich hatt’ einen Kameraden« geblasen zu bekommen, von Wulff mit Vor- und Familiennamen genannt zu werden, das eigene Begräbnis bezahlt zu kriegen, ohne daß es den Hinterbliebenen auf das ALG II angerechnet wird?

Jedenfalls: Wenn Sie im Fernsehen hören: »Wir trauern um die Opfer außer einem, der seine Teilnahme abgesagt hat«, dann wissen Sie: Der eine bin ich.

Junge Welt, 19. November 2010

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