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… die Veränderungsverweigerung um sich griffe?

… die Veränderungsverweigerung um sich griffe?

Sie hat ihr Gutes, sie stiftet einen seltenen Konjunktiv »…wenn sie um sich griffe«. Der ist allerdings geschönt, denn sie greift bereits. Wo immer Angela Merkel dieser Tage auftaucht, um in Stadthallen ihre holprige Standardrede vor der lokalen CDU-Klientel zu halten, stehen ihr, kaum ist sie aus dem Wagen gekrochen, Veränderungsverweigerer vor dem Leib herum, fitte Senioren und Seniorinnen in aktuellem Outdoor-Outfit, Reflektorbändchen an Armen und Fußgelenken, Stullenpäckchen und Thermosflasche im Rucksäckchen verstaut, Trillerpfeife im Mund und – zumeist unerklärliche, nichtsdestoweniger lodernde – Wut und totale Bereitschaft zur Nichtveränderung im Blick. Verjüngte Alte kann man sie nennen, denn sie sind hier, um die Demokultur ihrer Jugend wieder aufleben zu lassen, was auf jeden Fall die geselligere Variante einer Kaffeefahrt oder einer Schiffsreise auf der Donau ist.

Die Kanzlerin fragt dann jeweils den christdemokratischen Lokalfürsten, gegen welche etwaigen Veränderungen es denn diesmal gehe. Das ist oft gar nicht so genau auszumachen, weil häufig mehrere Nichtveränderungen gleichzeitig auf der Tagesordnung stehen. Am Dienstag in Lübeck fuchtelten die Leute gegen die lange Brücke nach Dänemark, die sogenannte Fehrmarnbeltquerung, mit den Fäusten. Andere wollten ihr Renteneintrittsalter nicht verändert sehen, aber andererseits auch nicht nach Dänemark schwimmen, und wieder andere wüteten gegen eine Verlängerung von Laufzeiten. »Welche Laufzeiten, welche Route?« fragte die Kanzlerin, denn sie selbst läuft auch nicht so schrecklich gern. Und alle diese ehrlichen Veränderungsverweigerer erklärten ihr Nichtveränderungsprojekt als ihr ganz persönliches »Stuttgart 21«!

»Stuttgart 21« ist jetzt die Chiffre für das, was früher gelegentlich Revolution genannt wurde. Der Sturm auf das Petrograder Winterpalais 1917 durch die Leninschen Horden – was war er anderes als ein »Stuttgart21«? »Stuttgart 21« ist die knallharte Kampfansage an die herrschende politische Kaste, gern auch auf Stadtteilebene. Es ist in jedem Fall die Drohung, sich freistehende Bäume auszusuchen – mit Bäumen geht es fast immer los –, von deren Nichtfällung der Fortbestand der Natur, der Erhalt »unserer gefühlten Identität«, der schönen Kindheitserinnerung und der Demokratie abhängt. Einmal in der Baumkrone angekommen, bekommt dann die Losung »Wir bleiben oben« eine lässige Sinnfälligkeit, wie sie kein linker Schlachtruf im letzten halben Jahrhundert erreicht hat. In »Stuttgart 21« ist auch die liebenswerte Marotte der Ossis dialektisch aufgehoben, die bekanntlich vor mehr als zwei Jahrzehnten mit Einbruch des Feierabends am Montag gemeinschaftlich plaudernd und scherzend durch die damals noch volkseigenen Städte zogen. Veränderungsverweigerer kann man sie in der Rückschau zwar nicht nennen – schließlich haben sie die Veränderung der Eigentumsverhältnisse in ihren Städten möglich gemacht. Dennoch gehört »Wir sind das Volk« zu jedem »Stuttgart 21« dazu, und immer, wenn die rasende Veränderungsverweigerung etwas zu erlahmen droht, beschließt ein harter Kern von Veränderungsverweigerern, sie als Montagsdemo zu institutionalisieren: »Montags immer Nerven sägen – aber nicht die Bäume«, steht dann im Kalender.

Und dabei nicht den »Witz des Volkes« aus dem Auge verlieren! Das Volk ist nämlich jederzeit ziemlich witzig. Manche kommen in lustigen Verkleidungen und haben die Gitarre dabei. Uralte Spontisprüche fliegen von Mund zu Mund wie Kußhändchen des Widerstands. Die Idee, bürgerschaftlich auf Kommando in Trillerpfeifen zu blasen, hat einen Charme, der die lokale politische Klasse nackt aussehen läßt und wahrscheinlich als Audio-Dokument eines Tages im Bonner Museum für BRD-Geschichte abrufbar sein wird.

Das staatstragende Feuilleton rätselt, ob das nun immer so weiter gehen wird. Baumfällungen, die lokale Bürgerkriege auslösen, die Verlegung einer Bushaltestelle, die mit der Besetzung des Wartehäuschens beantwortet wird (mit Kinderbetreuung)? Könnte der Führer heute den Bau der Autobahn in Angriff nehmen, ohne an der Veränderungsverweigerung der Stuttgarter Halbhöhe zu scheitern? Werden von Berlin-Schönefeld aus jemals Flugzeuge starten, wenn Kleinmachnower Wessis mit Selbstmord drohen? Ja, natürlich Segelflieger! Oder es gelingt, die Maschinen ausschließlich über den Ghettos der Unterprivilegierten an- und abfliegen zu lassen. Sonst, bitteschön, Baustopp und Heiner Geißler!

Junge Welt, 22. Oktober 2010

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