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… der Kapitalismus am Ende wäre?

… der Kapitalismus am Ende wäre?

Er ist es natürlich nicht! Was wir jetzt erleben, sagen seine Freunde in der Linkspartei mit vor Begeisterung geröteten Bäckchen, ist ja gerade seine ungeheure, grenzenlose, immerwährende Lernfähigkeit, seine Häutungstechnik, sein Talent, sich »immer wieder neu zu erfinden«, seine Leidenschaft für Selbstkritik, bis Blut kommt, und seine Offenheit (was sich »auf den Märkten« abspielt, versteht zwar keiner, aber zuschauen kann man vierundzwanzig Stunden lang live und in Farbe). Und seine wunderbare Brutalität: Er überläßt nicht nur täglich Tausende überflüssige Gestalten den Aasfliegen und Würmern, er vernichtet auch uralte Nationalstaaten mit einem Fingerschnipsen und ohne Blutvergießen. Island? Spanien? Brauch’ ich nicht mehr, sollten aber weiter ihre Folklore pflegen. Und noch vor dem Morgenschiß (geht der Kapitalismus scheißen?) löscht er mit einer lächerlichen Transaktion, von Computern womöglich automatisch ausgeführt, ganze Staatenbünde aus! Und wir, sagen seine Fans in der Linkspartei und greifen ergriffen einander bei den feuchten Händchen, wir dürfen dabeisein! Denn wir haben uns für ihn noch nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil.

Im Moment sieht es zwar so aus, als fräße der Kapitalismus sich selbst, einschließlich seiner Kinder. Hier indes, rufen seine Freunde in der Linken, und ihr Blick ist seltsam entrückt, hier ist die Dialektik von Wesen und Erscheinung »am Wirken«. Die haben wir traditionell intus, Hegelianer, die wir »eigentlich« sind. Deshalb haben wir und unsere Rosa-Luxemburg-Stiftung auch viel mehr Freude, ja regelrecht einen saftigen Genuß daran, dem Kapitalismus bei der Arbeit zuzugucken, als die anderen, die, blind für die Purzelbäume der Weltgeschichte, nur vor den Bildschirmen hocken und die Indizes der Märkte entziffern. Ja, sagen die linken Cheerleader des Kapitalismus, so mancher ist jetzt geneigt, dem Kapitalismus Insuffizienz zu unterstellen. Aber Wunschdenken ist gar kein Denken. Da heißt es beispielsweise, der Kapitalismus habe aus der Bankenkrise offensichtlich nichts gelernt und mache einfach so weiter. Ha! Und noch mal ha! Aus der Bankenkrise hat er gelernt, daß die Staaten, die mit ihren altväterlichen Etats, mit ihrem komischen Parlamentarismus und ihren wuselnden Kanzlerinnen die Banken gerettet haben, gar nicht gebraucht werden. Der Kapitalismus, hat er gelernt, braucht keine quasi Volksabstimmungen, um an Geld zu kommen. Auch wenn Brüssel »den Märkten« anbot, die Haushalte der EU-Staaten nun gleich selbst aufzustellen und die Abgeordneten der nationalen Parlamente solange mit was anderem (z.B. mit ethischen Fragen) zu beschäftigen – das ist doch nur der Versuch, eine Galgenfrist herauszuschinden!

Wenn der Kapitalismus plötzlich am Ende wäre, bräche Ratlosigkeit in der Kantine des Karl-Liebknecht-Hauses aus. Einige, die zu rasch sind und keine Hegelianer, würden vorschlagen, den Programmentwurf zu Rate zu ziehen, der vage die Möglichkeit eröffnet, in Sozialismus zu machen. Na gut, aber wie fängt man das an? Arbeitermädel- und -buben auf die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät? Schluckimpfung und Schwangerenberatung für alle? Nationalstaat mit Grenzregime (ohne die alten Fehler, Genossen!)? Erst mal nur im Sendebereich des MDR – oder gleich für Griechenland mit?

Nein, Genossen, zunächst müssen wir die offiziellen Trauerfeierlichkeiten für den Kapitalismus (eine Kommission unter Leitung von W. Thierse wurde eingesetzt) abwarten. Denn es war nicht alles schlecht. Man ist fast zwei Jahrhunderte und vor allem in den letzten zwanzig Jahren sehr gut mit ihm gefahren. Er hat zahlreiche Pöstchen abgeworfen. Vizepräsidentin des Bundestages – wo gibt es so was jemals wieder! Außerdem hat er das Internet erfunden, in dem Die Linke eine feine Homepage hat. Man ist ihm was schuldig, dem Kapitalismus: Die Linke bittet Thierse, »Unsterbliche Opfer« ins musikalische Begleitprogramm zu nehmen.

Dann finden Regionalkonferenzen statt, die das Verbot von Heuschreckenfonds diskutieren und eine schonungslose Aufarbeitung der jüngsten Geschichte fordern. Außerdem soll die Formulierung »abgestorbener, abgefaulter Kapitalismus« wieder in die Parteischriften aufgenommen werden. Gregor Gysi erklärt in einer lustigen Rede, eigentlich, wie ja alle wüßten, gar nicht dabeigewesen zu sein.

Und dann? Dann müssen wir mal weitersehen.

Junge Welt, 14. Mai 2010

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