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… Bürger versucht wären, das Regierungsgebäude zu stürmen?

… Bürger versucht wären, das Regierungsgebäude zu stürmen?

Sagen wir, es wären »mehr als 10000«. Eine Zahl, die bereits aus geringem Anlaß, wie den Ersatz eines häßlichen Bahnhofs durch einen häßlichen Bahnhof, erreicht werden könnte. Zugegeben, keine gemütliche Zahl für eine Regierung in einem Regierungsgebäude, eine Zahl, die nervös machen könnte. Also, sagen wir lieber, es wären 1000 oder, noch besser, 500 und sie unternähmen den »Versuch, das Regierungsgebäude zu stürmen«, also das Bundeskanzleramt zu überrennen, dort die Kantine leerzufressen und dann den Roten Hahn darauf zu setzen.

Der Anlaß für ihr gewalttätiges und gesetzloses Engagement – denn nirgendwo auf der Welt kann man ein Regierungsgebäude friedlich und gesetzeskonform »stürmen« – sei in unserem Gedankenexperiment dahingestellt: Es könnten Mitarbeiter von Schneeräumdiensten sein, die es einfach satthaben. Oder die gesamte KPD. Oder Krankenschwestern, die ihre unterbezahlte Existenz zur Gewalt gegen das Kanzleramt motiviert. Oder pubertierende Kinder, die ihr Popidol in den Räumen der Kanzlerin zu Gast vermuten und es da rausholen wollen.

Der große Rest der Bevölkerung, nehmen wir weiter an, beteiligte sich nicht an dem Spektakel, stand ihm gleichgültig oder ablehnend gegenüber. Der große Rest – das könnten beispielsweise 79,7 Prozent der wählenden Bürger sein. Oder, wie es der Spiegel formulierte, »angeblich 79,7 Prozent«. Diese Zahl gehörte kürzlich dem weißrussischen »Autokraten« (alle Zitate im folgenden aus dem Spiegel) Lukaschenko. So viele Leute hatten ihn – wiederholt – zum Präsidenten gewählt. Angeblich gewählt, natürlich.

Dieses »angeblich« hat es in sich. Es ist der kleine Rest, ein letztes Stäubchen von dem massiven Wahlbetrug, der bereits zehn Tage vor der Wahl durch die deutschen Leitmedien wanderte. Gegner Lukaschenkos, irrlichternde Personen, die selbst der Spiegel nur mit Hängen und Würgen als Opposition benamsen kann, sagten in bundesdeutschen öffentlich-rechtlichen Sendern den »massiven Wahlbetrug« voraus und forderten die Hörer auf, nicht per Brief zu wählen, weil diese Briefe von Lukaschenko regelmäßig gestohlen würden. Sie sollten diesen Rat, bitteschön, den Weißrussen irgendwie weitersagen. Es half alles nichts. Als dann rund drei Viertel der Weißrussen, die zur Wahl gegangen waren (oder einen Brief geschickt hatten), Lukaschenko angeblich gewählt hatten, »da gingen in Minsk mehr als 10000 auf die Straße«, von denen einige den »Versuch, das Regierungsgebäude zu stürmen«, wagten.

Wie der ausging? Wie ginge es denn aus, wenn 500 – oder sagen wir 100 – versuchen würden, das Kanzleramt zu stürmen? Wie darf man sich den Verlauf dieses Versuches in der bestgemusterten Demokratie der Welt, in der man auf diversen Kanzlerinnengipfeln oder auf dem Wege der Schlichtung noch immer einen Interessen-Konsens produziert, vorstellen? Wahrscheinlich so: Die Geheimpolizei wäre »gut vorbereitet«. Sie würde nicht schießen (natürlich nicht!), aber »knüppelte die Demonstranten nieder«. Nicht alle. Aber doch die, die den Fuß ins Kanzleramt setzen wollten. Vielleicht wäre auch der Einsatz von Gas oder Wasserwerfern das Mittel der Wahl. Dann nähme die Geheimpolizei »einige hundert von ihnen fest«. Die Rädelsführer würden natürlich an einen unbekannten Ort verbracht, so daß sie ausländische Reporter (z.B. des belorussischen Fernsehens) nicht gleich befragen könnten, ob sie diese ungeheuerliche und brutale Reaktion des Staates, der sich eine Demokratie dünkt, für möglich gehalten hätten. »Von ›Banditen‹, die Massenunruhen ausgelöst hätten«, spräche anderntags wahrscheinlich die Kanzlerin. Völlig zu Recht! Natürlich gäbe es, wie regelmäßig nach 1.-Mai-Feuern in Kreuzberg, »Schnellverfahren«, die empfindliche Tagessätze Strafe verhängten.

Am Montag würde der Spiegel triumphieren: »Der Versuch, das Regierungsgebäude zu stürmen, mißlang.« Wahrscheinlich würde er im Sinne des unabhängigen und den Fakten ergebenen Journalismus, hinzusetzen: »Er endete blutig.«

Wenn eine Handvoll Leute, warum auch immer, das Kanzleramt stürmen und zur Wiederherstellung der Gesetzlichkeit mit Knüppeln touchiert werden würden, was wäre das? »Es wäre ein übler Rückfall in alte Zeiten« (als die SA auf Sozialdemokraten und Kommunisten schoß), und »das westliche Europa käme in Erklärungsnot«, was es denn mit einer Kanzlerin anfangen solle, die keinen Deut besser wäre als der Autokrat in Minsk.

Junge Welt, 31. Dezember 2010

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