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… die Infantilisierung voranschritte?

… die Infantilisierung voranschritte?

Infantilität bezeichnet eine Entwicklungsphase der Psyche der Enfanten (franz.), die vorpubertäre Phase. Interessen und Einstellungen sind noch instabil, kurzfristige Bedürfnisse überwiegen: Ich will Ball spielen, ich will KIKA-gucken, ich muß kackern. Unstetheit, leichte Lenkbarkeit. Gestern sagte der Kindergärtner Jens: »Da kommt der Opa von Finn! Los, da springen wir dreimal in die Luft!« Er klatschte in die Hände, und fünf Kinder sprangen dreimal quietschend in die Höhe. Der Opa von Finn schämte sich etwas des Menschengeschlechts. Aber das geht vorbei.

Wenn nicht – dann Infantilismus. Er befällt Erwachsene, erst episodisch, wird leicht chronisch. Die Patienten weichen zielgerichteten Tätigkeiten aus, sind zur Problembewältigung unfähig, verlieren jede Struktur im Alltag und vernachlässigen sich, sind aber subjektiv beschwerdefrei. Ja, sie sind in jedem Stadium der Krankheit ausgesprochen lustig. Die gesamte Symptomatik findet man – offenbar simuliert – sehr schön bei Moderatorenpärchen von Radio Eins (»Nur für Erwachsene«) oder bei Florian Silber­eisen. Infantilismus ist infektiös – er wird in Arbeitslagern, auf Kreuzschiffen, bei der Bundeswehr und in Stadien leicht übertragen.

Die Schübe von Infantilismus in der Gesellschaft häufen sich seit langem. Und es hat den Anschein, daß die Anwesenheit von Kameras und Mikrofonen oder eines »autoritären Auges« (Gott, der Führer, die Öffentlichkeit) akute Zustände auslösen: Das Gefühl des einzelnen, »den Menschen« seinen Gemütszustand mitteilen zu dürfen, macht das Individuum unberechenbar, vor allem dann, wenn es sich von der Gruppennorm beschützt weiß: Der Infantilist schaukelt sich dann gefährlich hoch, betont aber verbal ständig, »friedlich« und »nur lustig« zu sein.

Wir kennen das von Reichsparteitagen (im ZDF-Sportstudio auch »innerer Reichsparteitag« genannt) und Kirchentagen. Sehr schön war die verstärkende Kraft von Kameras (oder Kameraatrappen) bei den politischen Ereignissen in der DDR 1989/90 zu beobachten (»Deutschland einig Vaterland«, »Wahnsinn, Wahninnn!«). Manchmal bekommt der Infantilismus einen Tagesbefehl (Momper: »Deutschland, nun freue dich!« oder »Wir werden Weltmeister«). Die Infantilisten gewinnen dann die Sicherheit, staatlich legitimiert zu sein.

Jüngste Infantilismus-Ereignisse waren »Lena« (auch »Lenafieber« oder von Bild »Lenanismus« genannt), die Besetzung eines staatlichen Postens ( »Ein Festtag der Demokratie«, »Ein Lehrstück des demokratischen Miteinanders« – Thierse), die Fußballweltmeisterschaft und das überraschende Ansteigen der sommerlichen Temperaturen (»Es ist Sommer!«, »Sommer für alle!«, »Deutschland, dein schönster Sommer«). Allesamt Fälle für die Klinik: Eigentlich müßte das THW Zelte aufstellen, in denen extreme Infantilisten notversorgt werden können. Eigentlich – psychische Massenpathologismen werden jedoch oft nicht ernst genug genommen. Sie werden oft als »Spaß« verniedlicht.

Eine Erscheinungsform ist das Brüllen syntaktischer Brocken – »Wir, wir, Weltmeister, alte Scheiße, ich werd nicht wieder, alte Scheiße!«, »Lena, wir lieben dich, Lena for ever!«, »Gauck, du bist mein Präsident der Herzen«. Gleichzeitig brechen die Patienten in Tanzbewegungen aus, zu denen sie sich auch in Gruppen finden (»Fanreihe«). Für alle auslösenden Ereignisse gilt, daß der Ausruf »Deutschland!«, verkürzt zu »Schlaaaand!«, psychisch enthemmend wirkt. Offenbar versichern sich die Patienten damit gegenseitig ihrer »Normalität« und versuchen, selbst normative Kraft zu gewinnen (siehe auch: »Wir sind das Volk!«). Alkohol und Dehydrierung beeinflussen den Verlauf ungünstig.

Neue Beobachtungen erlauben den Schluß, daß in Rudeln auftretende Infantilisten zahlenmäßig geringer sind, als auf Grund ihrer Präsenz in den Medien angenommen wird. Im Falle der »Gauck for President«-Hysterie, die angeblich Massen von Jugendlichen im Internet erfaßt hatte, stellte sich heraus, daß sie von Automaten erzeugt worden war. Vermutet wird, daß die Infantilisten immer dieselben sind. Sie halten sich gezielt an öffentlichen Plätzen auf – vor dem Reichstag, auf dem Ku’damm usw. –, wo sie Kameras, Reporter u.ä. vermuten können. Auch wenn sie weniger sind, als gedacht – es kann einem angst und bange werden.

Junge Welt, 09. Juli 2010

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