Blog

… wenn wir einen Mundraubparagraphen hätten?

… wenn wir einen Mundraubparagraphen hätten?

Er müßte etwa so klingen: »Die Wegnahme bzw. Beisichbehaltung einer eigentlich nicht für den Wegnehmer bzw. Beisichbehalter bestimmten Sache, die dem umittelbaren Verzehr dient oder von einer ohne Zubereitung eßbaren Sache, die die Natur hervorbringt, ist von Strafe grundsätzlich freigestellt, wenn diese sogleich ratzekahl und mit Appetit oder auch aufgrund von Hunger aufgegessen wird.

Unter Strafe steht lediglich die Wegnahme bzw. Beisichbehaltung o.g. Sache, wenn sie gehortet wird, um späteren Appetit oder auch Hunger zu stillen oder sie weiter zu veräußern. Auch die Absicht des Wegnehmers bzw. Beisichbehalters, den Appetit oder auch Hunger eines Dritten (zum Beispiel des eigenen Kindes) stillen zu wollen, stellt diesen nicht straffrei und ist als bloße Schutzbehauptung zu werten.«

Dieser geniale Paragraph müßte natürlich nicht nur ins Strafrecht, sondern auch ins Arbeitsrecht. Da müßte sinngemäß stehen, sogenannter Mundraub am Arbeitsplatz ist kein Vertrauensbruch und kein Kündigungsgrund. Denn was nicht strafwürdig ist, darf auch nicht mit Kündigung bestraft werden. Gelegentlich wäre es eine größere »Strafe«, wenn schreckliche Köche den Dreck, den sie zusammenkochen und in den sie ihre geschnittenen Fußnägel entsorgen, selber essen müßten. Natürlich bestünde im Zusammenhang mit der Einführung eines Mundraubparagraphen, der die Selbstversorgung begünstigt, weiterer Regelungsbedarf. So kann das Aufreißen von Wurstverpackungen mit den Zähnen oder das Austrinken eine Tetrapacks durch eine Supermarktverkäuferin schwerlich nachsichtig als Mundraub behandelt werden. Auch nicht der Verzehr von Wechselgeld oder Pfandbons, wie es diese Emmely bekanntlich versuchte, was eine Enddarmkontrolle durch den herbeigerufenen Hausmeister offenbarte. Auch das Wegschlecken einer Konserve Erasco-Bohnensuppe »Balkanfeuer« ist nicht durch den Mundraubparagraphen geschützt, weil die vor dem Verzehr zunächst erhitzt werden müßte. Und wer das macht, beweist, daß er vorsätzlich und hinterhältig und aus niederen Beweggründen klaut.

Den Mundräuber ereilt heute nicht eo ipso Strafe, sondern nur dann, wenn jemand die Sache zur Anzeige bringt. Der Kläger wird jedoch in der juristischen Praxis damit rechnen müssen, daß die Bagatelle gar nicht zur Verhandlung angenommen wird. Entsprechend hat einst auch Bertolt Brecht eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen, als er – noch in seiner Übergangswohnung am Weißen See – einen, durch sein Gedicht »Der Kirschdieb« später berühmt gewordenen Kirschdieb »in geflickten Hosen« gewähren ließ, der des nächtens in seinem Kirschbaum (der gehörte wahrscheinlich gar nicht Brecht, sondern war nur Bestandteil seiner Mietsache) rumorte, schmatzte und furzte. »Mit beiden Händen«, wie Brecht konsterniert bemerkte, erntete er die Früchte. Eine verblassende Wandbemalung in Weißensee erinnert bis heute an diesen Mundraub.

Wieder in seiner Bettstadt liegend, »hörte ich ihn«, sagt Brecht im Gedicht, »sein lustiges kleines Lied pfeifen«. Das ist interessant! An anderer Stelle spricht der Dichter davon, daß der Dieb sich die Taschen füllte. Beides sind Indizien dafür, daß der Mundraub doch ein ordentlicher Diebstahl gewesen ist, denn wenn der Kirschdieb die von der Natur bereitgestellte eßbare Sache unmittelbar verzehrt hätte, hätte er nicht pfeifen und sich nicht die Taschen füllen können. Brecht, wahrscheinlich grün vor Ärger, war also – wie viele Schöngeister heute auch angesichts der Wegnahme von Frikadellen von einem für Chefs bestimmten Kalten Buffet durch eine Sekretärin oder von Maultaschen aus einem Pflegeheimküchentopf – in der Angelegenheit zu generös.

Die Freigabe des Mundraubes – von »Raub«, also einer Wegnahme infolge Gewaltandrohung bzw. -wendung kann natürlich nur metaphorisch, nicht jedoch juristisch die Rede sein – entspricht auch unserem in der Kindheit entwickelten und in der Jugend ausgiebig praktizierten Rechtsempfinden. Was zu klauen, um es sich in den Mund zu stopfen oder die Kehle hinabrinnen zulassen, ist im schönsten Sinne des Wortes Gewohnheitsrecht. Vor Kindern ist nichts Eßbares sicher. Deshalb müssen Reinigungsmittel und Bergmannsschnaps weggeschlossen werden. In der Spätpubertät ist das Energiedefizit nur durch permanente Wegnahme von Eßwaren einigermaßen auszugleichen. Vielleicht könnte also ein neuer Mundraubpargraph in Wachstum & Geschlechtsreife begriffene Personen ausdrücklich ermuntern, während er dicken Frauen, die seit zwanzig Jahren im Pflegeheim gedient und nun einen Jieper auf Patientenkost haben, ein bißchen ein schlechtes Gewissen machen könnte. Das zu formulieren übersteigt indes meine Möglichkeiten.

Junge Welt, 23. Oktober 2009

This Post Has 0 Comments

Leave A Reply